Die offensichtlichste Frage zu Anfang: Ist es eigentlich komisch, mit 39 Jahren wieder zu Hause bei seinen Eltern im alten Kinderzimmer zu schlafen? Die Antwort: Nein, absolut gar nicht – im Gegenteil. Während draußen der Wuppertaler Regen an die Scheibe prasselt und ich meinen Blick über die Wände streifen lasse, an denen noch vor Jahren irgendwelche Jugendbilder hingen, am gleichen Fleck sitzend, an dem früher mein erstes Kinderbett stand, wird mir klar, was für ein Glück das ist. Dass das überhaupt möglich ist. Gerade bin ich nach Hause gekommen, hatte noch kurz einen Freund besucht, ein bisschen wie früher, Schlüssel im Schloss leise umgedreht, weil ich will ja niemanden wecken, die elektrische Zahnbürste macht Krach und ich denke kurz, dass es das Problem damals noch nicht gab, da höre ich meine Eltern aus dem Schlafzimmer rufen. Ich öffne ihre Tür – und da sind sie: ihre Nachtlichter an, Brillen auf den Nasen, Lektüre in der Hand, ein Strahlen im Gesicht. Und freuen sich, dass ich da bin. Und ich freue mich, dass sie da sind. So einfach kann das sein. Und so wunderschön.
Die letzten Tage haben mich zum Nachdenken gebracht, Dinge angestoßen. Auf vieles habe ich noch keine Antwort – und das wäre auch seltsam, wo die Reise doch gerade erst begonnen hat – aber ich merke, dass es Themen sind, die mich die kommenden Monate beschäftigen werden. Mit denen ich mich auch beschäftigen möchte. Zum Beispiel mit der Tatsache, dass ich bislang immer in einer Welt des Mehr gelebt habe. Jeder Mensch hat seinen eigenen Antrieb – der eine möchte Sicherheit, der nächste seine Ruhe, der dritte Geld, der vierte Status und wieder einer alles zusammen. Gemein dürfte aber fast allen sein, dass es irgendwie vorangehen soll. Dieses Streben, der Wunsch, voranzukommen und mehr zu haben. Und ich war in der Hinsicht auf einem guten Weg, habe mir bewiesen, dass es geht: 170 Quadratmeter Altbau mit Kamin, dazu 30 Quadratmeter Balkon, ein schickes Cabriolet, tolle Urlaube, kein Verzicht auf irgendwas, das ich gerne gehabt hätte. Ich will das auch gar nicht bewerten. Es war einfach so und das war auch gut so.
Sicher wäre da auch noch mehr gegangen – das Auto war schon nicht verkehrt, aber es gibt auch noch schickere Modelle mit noch mehr PS. Und die Wohnung war super, aber ein unverbauter Blick über die Stadt dazu wäre nicht verkehrt gewesen. Die Frage, wofür man sich im Job reinhängt, warum man morgens aufsteht und die ganzen Dinge tut, die man so tut, war damit immer schnell beantwortet: für das Mehr, das da noch ist. Für die nächsten und vermeintlich logischen Schritte.
Jetzt ist vieles davon weg. Wir fahren einen Skoda Fabia, leben aus je zwei Kartons, haben keine eigene Wohnung – und es fehlt uns. Nichts. Überhaupt nichts. Also natürlich ist das Leben ohne eigene Wohnung anstrengender. Aber das sind so grundsätzliche Dinge: Wie mache ich Sport? Wie ist das mit dem Kochen? Wo ist eigentlich was? Ist das WLAN schnell genug zum Arbeiten? Wo kaufe ich ein? Und gibt es da alles, was ich brauche? Aber lasse ich das einmal außen vor – denn so wird es ja nicht immer bleiben – merke ich, dass das Mehr eigentlich nie wirklich wichtig war. Es war bloß die einfachste Antwort auf die Frage: Was will ich eigentlich hier? So generell – in Bezug auf: machen, tun, leben. Ich will damit nicht sagen, dass ich jetzt für immer alle Dinge abgeben, dem Konsum abschwören, nie wieder etwas besitzen und als Nomade durch die Gegend ziehen möchte. Schöne Dinge sind nach wie vor schön. Und schöne Dinge können auch teuer sein – Urlaube, Reisen, Wein, Weingläser nicht zu vergessen, von mir aus auch Schuhe und Kleidung und vieles mehr. Aber dafür braucht es keinen Automatismus. Und sicher auch keine 170 Quadratmeter Wohnfläche zu zweit. Und nur vielleicht ein schnelles Auto mit viel PS.
Und – und damit höre ich jetzt auch auf, bevor es zu philosophisch wird – wenn man einmal darüber nachdenkt, ist das erst der Anfang. Denn wenn ich nicht zwangsläufig immer mehr Geld brauche, um mir mehr zu leisten, was mache ich dann damit? Und brauche ich überhaupt mehr Geld? Und wenn nicht – ist Zeit dann möglicherweise viel wertvoller? Und wenn das so ist, was fange ich dann damit an? Antworten darauf habe ich noch nicht – zumal sich diese Fragen vermutlich eher temporär als ein für alle Mal dauerhaft beantworten lassen – aber ich freue mich darauf, mich damit auseinanderzusetzen. Jetzt aber mache ich erst einmal das Licht im Kinderzimmer aus. Und lausche noch ein bisschen dem Wuppertaler Regen, der immer noch an meine Fensterscheibe prasselt.
10. Juni 2022