Sollte ich einmal Kinder haben und ihnen zeigen wollen, wo ich früher zur Schule gegangen bin, dann wird das schwierig. Abgerissen – genauso übrigens wie mein Kindergarten. Bei meinem Vater ist das anders. Wir stehen in dem großen, gelben Gebäude, fühlen uns ein bisschen verloren und hoffen, dass niemand uns anspricht. Denn außer ihm versteht keiner von uns ein Wort Polnisch. „Diese Balken hier“, sagt er, und deutet auf zwei massive Stahlträger im Eingangsbereich, „die hat euer Großvater mit seinem Freund eingezogen, um die Treppe zu stützen. Die wäre sonst irgendwann eingestürzt.“ Da haben die beiden gute Arbeit geleistet denke ich – und finde es faszinierend, ein kleines Stück meiner Familie hier zu entdecken, mehr als 1.000 Kilometer von zu Hause entfernt.
Wir sind ins Sensburg, heute Mrągowo, einer polnischen Stadt in Masuren, etwas mehr als 21.000 Einwohner. Eine Woche verbringen wir hier mit der Familie – Vater, Mutter, meine Schwester, Lena und ich, haben uns zusammen eine Wohnung gemietet und schauen uns an, wo wir eigentlich herkommen. Genauer gesagt, wo mein Vater und meine Großeltern herkommen – und da gibt es viel zu entdecken. Das Haus, in dem mein Vater aufgewachsen ist, steht noch, es gibt den kleinen Gemüsegarten dahinter, die Läden, in denen er früher einkaufen war, die Gebäude, in denen mein Großvater gearbeitet hat, die Seen, in denen die ganze Familie nach und nach Schwimmen gelernt hat. Und dazu gibt es Geschichten, von eingeschossenen Fensterscheiben, winterlichen Rutschpartien, geklauten Würstchen, verprasstem Geld, nächtlichen Trinkgelagen und vielem mehr.
Hier in Masuren, wo abseits der Städte noch viele Höfe und Häuser aussehen wie vor hunderten Jahren, wird auf diese Weise eine Welt lebendig, die so ganz anders ist als die, die ich kenne. Rauer, härter, ärmer – aber ein Stück weit auch einfacher und klarer, gemeinschaftlicher, vielleicht sogar herzlicher. Die Zeiten sind vorbei, haben sich geändert, und umso wertvoller ist es, sie erzählt zu bekommen und sich das anschauen zu können, was überdauert hat.
Natürlich ist die Woche keine reine Geschichtsstunde, wir erleben auch abseits davon viel, gehen erfolgreich Pilze finden, was hier in Polen nach wie vor etwas ist, das gefühlt alle Familien an den Wochenenden unternehmen, fahren mit einem kleinen Kahn durch ein wunderschönes Naturschutzgebiet, schlendern über Märkte, besichtigen Kirchen und Freilichtmuseen und braten Fisch. Der aus einem der vielen Seen hier stammt, von denen niemand genau weiß, wie viele es eigentlich sind. Mehr als 3.000 ganz sicher, sie prägen die Landschaft in diesem Teil Polens und sind allgegenwärtig.








Und klar, die Woche ist auch anstrengend, so viele Personen auf einem Fleck, nur ein Auto – und weil man hier zu Fuß nicht wirklich weit kommt, stimmt man sich ständig ab, was automatisch zu dem ein oder anderen Konflikt führt. Was aber nicht weiter tragisch ist, denn wo gibt es das nicht – und viel kostbarer ist die Zeit, die wir hier gemeinsam verbringen. Und die Erinnerungen, die ich mitnehme, gerade auch vor dem Hintergrund, dass wir, also Lena und ich, schon in weniger als drei Monaten zu unserer Weltreise aufbrechen. Überhaupt: Die Zeit ist verflogen, das ist wirklich verrückt. Nachdem wir vergangenes Wochenende aus Polen zurückgekommen sind, sind wir derzeit in Solingen, die Gelegenheit nutzen, ein paar Freunde und Bekannte zu sehen.
Am Wochenende geht es dann wieder weiter, Samstag ein Stück in den Süden zum Wandern und am Sonntag ganz hoch in den Norden nach Wiesmoor, fast schon an der Nordsee. Dort bleiben wir dann drei Wochen und darauf freue ich mich sehr. Mit Italien, der einen Woche in Bergamo, der Radtour, der Woche in Polen, der Woche in Solingen und den ständigen Umzügen, war das Programm der vergangenen Wochen doch recht anspruchsvoll und es wird definitiv Zeit, dass wieder etwas mehr Beschaulichkeit einkehrt. Was ja auch ganz gut zur nahenden Jahreszeit passt, finde ich.
7. Oktober 2022